Man könnte Jakub Małeckis Roman „Rost“ wohl mit einem Puzzle vergleichen. Es ist eine Geschichte, in der viele Stimmen ertönen und Handlungsstränge zusammengeführt werden, die aber dennoch kurz und bündig bleibt.
Man könnte Jakub Małeckis Roman „Rost“ wohl mit einem Puzzle vergleichen. Es ist eine Geschichte, in der viele Stimmen ertönen und Handlungsstränge zusammengeführt werden, die aber dennoch kurz und bündig bleibt. Und sich dennoch schnell liest.
Sie ähnelt einem Puzzle, denn einerseits ereignet sich darin sehr viel: Mehrere Generationen von Protagonisten treten über die Jahre hinweg (von 1939 bis 2016) in Erscheinung, eingebettet in historische Ereignisse, lokale Traumen, Tragödien, kleine Freuden und Familiendramen. Andererseits aber enthüllt Małecki diesen Wirrwarr an Gestalten sehr behutsam und der Reihe nach. Wie ein Seriendrehbuchautor serviert er dem Leser nach jeder Episode einen emotionalen Cliffhanger. Dabei sind alle Motive und Gestalten miteinander verknüpft. Mit jedem kurzen Kapitel werden weitere Teile dieses Puzzles aufgedeckt: Eine Geschichte führt zur nächsten, die Vergangenheit spiegelt sich in der Gegenwart wider, und Personen, die zunächst in fortgeschrittenem Alter dargestellt werden, erscheinen kurz danach als junge Menschen. Doch inmitten dieses Irrgartens führt der Autor den Leser mit sicherer Hand. Sogar wenn etwas unklar erscheint, spüren wir eindeutig, dass die Antwort bereits hinter der nächsten Ecke auf uns lauert.
Die Handlung des Romans beginnt im Jahr 2002. Der siebenjährige Szymek wohnt mit seiner Familie im Dorf Chojny, nicht weit entfernt von der Stadt Koło. Er lebt das Leben eines typischen Vorschülers am Anfang des 21. Jahrhunderts in Polen. Er liest Comichefte, erforscht mit Freunden verschiedene Schlupfwinkel, sieht Zeichentrickfilme an und stellt Erwachsenen schwierige Fragen. Das Bildungsromangenre hat Małecki wahrlich gemeistert. Dies ist kaum überraschend, da er ja einige Jahre zuvor in derselben Ortschaft aufgewachsen ist (er wurde 1982 in Koło geboren). Somit erinnert er sich noch sehr gut daran, womit ein Kind damals seine Freizeit verbrachte und was seine Fantasie beflügelte. Doch diese Sorglosigkeit währt nicht lange, denn seine Eltern verunglücken tödlich mit dem Auto. Seitdem erzieht ihn seine Oma Tośka, die im Dorf als komischer Kauz gilt.
Mit jedem Kapitel gesellen sich weitere, kunterbunte Gestalten dazu. So lernen wir erst Tośkas Mutter kennen, Sabine, ihren Geliebten, ihre Nachbarn, Geschwister und dann ihre Tochter, also Szymeks Mutter. Małecki zeichnet seine Romanhelden mit viel Liebe, doch bewahrt er sie nicht vor Tragödien: Jemand wird verprügelt und landet im Rollstuhl; jemand anderes trinkt zu viel und wieder eine andere Person wird vor dem Traualtar stehen gelassen.
Diese Geschichten mögen wohl wenig Romanpotenzial haben, könnte man fast meinen. Es sind eben nur Seifenoperngeschichten. Aber dieser Eindruck täuscht. Ein guter Roman kann sehr wohl das Magische in herkömmlichen Ereignissen hervorbringen und aus dem Konventionellen das Unkonventionelle machen. Małecki schafft dies dank der entsprechenden Dosierung von Emotionen, dem geschickten Jonglieren zwischen Motiven und seinem Talent für psychologische Porträts.
Eine ebenso wichtige Rolle spielt im Roman das Kriegstrauma, welches die Einwohner des Städtchens nicht überwinden können. Sie geben dieses Trauma von Generation zu Generation weiter, als ob es ein Siegelring wäre. Denn von Chojny bis Chełmno, wo die Nazis mit der Einführung der „Endlösung der Judenfrage“ begonnen hatten, sind es lediglich 15 Kilometer. Der Gestank verbrannter Körper war den Einwohnern der umliegenden Dörfer sehr wohl bekannt. Rauch drang in die Nasen, während der Staub in der Kehle stecken blieb.
Doch trotz dieser Anhäufung dramatischer Ereignisse ist „Rost“ keine emotionale Pornographie. Małecki streut auch heitere Momente ein, er erlaubt dem Leser eine Verschnaufpause, und wenn es wirklich dramatisch wird, nimmt er den Fuß vom Gaspedal. Er entrealisiert die Normalität und kommt so dem magischen Realismus nahe, unter anderem dank dessen, dass die jüngsten Helden die Erzählung wiederaufnehmen. Aus deren Perspektive scheint die Realität doch etwas erträglicher zu sein. Über alles kann man scherzen, eine Tragödie kann man wie ein Märchen erzählen, und der Bann des Familienfluchs ist nur halb so stark.
Marcin Kube
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Rost
Autor: Jakub Małecki
Übersetzerin: Renate Schmidgall
Herausgeber: Secession Verlag für Literatur
ISBN-10: 3905951983
ISBN-13: 978-3905951981
Gebundenes Buch / Kindle Ausgabe
295 Seiten
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